Martin Amanshauser

Die große Nummer Zwei

Fußball, Musik, Studentenkultur – „Madchester“, eigensinnig-reizvolle Mischung aus Designmetropole und Industriedenkmal.

Manchester hat es schwer. Vom großen Tourismus ist die Stadt bisher verschont geblieben. Die Konkurrenz aus nächster Umgebung ist erdrückend. Liverpool, eine Dreiviertelstunde westlich, hat das Meer und die Beatles. Ist Manchester wenigstens die Stadt Nummer 2 in Großbritannien? Nein, von der Einwohnerzahl her wäre das Birmingham. Schlimmer: neben Liverpool sind auch Glasgow, Leeds, Sheffield, Edinburgh und sogar Bristol größer.

„Fußball, Musik und Studenten“, beschreibt Ed Glinert die drei Atouts der Stadt. Ed schrieb für die Satirezeitschrift „Private Eye“ und arbeitet heute als Manchester-Spezialist – ein Mancunian von Beruf. Gegen die Beatles kommt niemand an, aber aus Manchester kommen immerhin The Smiths. Bei depressiverer Laune könnte man die Independent-Götter The Fall erwähnen, blickt man auf die Verkaufszahlen, darf Oasis nicht verschwiegen bleiben, die Britpop-Gruppe „mit diesen schrecklichen Brüdern“, wie Ed an der Kreuzung zwischen King Street und Spring Garden anmerkt – direkt vor dem Flagshipstore von „Pretty Green“, Liam Gallaghers Klamottenshop, dessen Portal bei den Jugendlichen-Unruhen letzten Sommer zerdroschen wurde. Die Masse bediente sich kostenlos, und Gallagher, der wohl oder übel den Popstar geben muss, fand das okay. An der gleichen Kreuzung hat Jamie Oliver jüngst Jamie´s Italian eröffnet, betreibt Vivienne Westwood (sie stammt aus dem nahen Glossop) eine Boutique, und besitzt der Fußballer Rio Ferdinand einen weiteren Italiener. Das alles in den Bankenpalästen, die im 19. Jahrhundert im Stadtzentrum emporschossen. „Vor dreihundert Jahren gab es hier ein paar Bäche und Höfe, vor zweihundert Jahren war Manchester plötzlich die Baumwoll-Metropole“, kommentiert Ed Glinert.

Marx und Engels. Manchester hatte es schwer: Eine aus dem Boden gestampfte Stadt der Industriellen Revolution mit einer Vielzahl von Flüssen – heute unterirdisch – durch deren Wasserkraft die Baumwollspinnereien angetrieben wurden. Die koloniale (und US-)Baumwolle kam über den Hafen Liverpool, und bald fuhr die Liverpool & Manchester-Railway, deren erster landesweiter Bahnhof heute das hinterste Gebäude des spektakulären MOSI darstellt, des Museum of Science and Industry. Am 15. September 1830 wurde sie eröffnet, wobei eine Lokomotive den Parlamentsabgeordneten Huskisson, der im Begriff war, den Premierminister zu grüßen, totfuhr – die neue Technologie war schneller und wilder als man dachte.

1842 kam ein deutscher Unternehmerssohn namens Friedrich Engels nach Manchester, wo sein Vater mehrere Spinnereien ("Ermen & Engels") betrieb. Er sollte eine kaufmännische Ausbildung genießen, traf aber auch auf die irischen Arbeiterinnen Mary und Lizzie Burns, später (hinteinander) seine Lebensgefährtinnen. Mary, die Ältere, arbeitete seit dem Alter von neun Jahren in der Textilmanufaktur, die Schwestern brachten ihm Fabrik, Stadt und Kultur näher, anschauliches Grundmaterial für „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Die schriftlichen Quellen fand Engels in der Chetham´s Library, seit 1653 die älteste öffentliche Bibliothek der Insel.

Auch heute kann den historischen Ort besuchen, wer sich beim Portier einen kostenlosen knallgelben Aufkleber besorgt. Das Überwinden der Schüchternheit lohnt sich: Wo sonst stehen 60.000 Bände, die vor 1850 publiziert wurden? Viele Bücher im Handapparat sind seit Jahrzehnten angekettet. „In den letzten Tagen habe ich einige Zeit am vierseitigen Tisch im Alkoven verbracht“, schreibt Engels 1870 an Marx, „an dem wir vor vierundzwanzig Jahren zusammen saßen“, er lobt die Helligkeit des Plätzchens und trauert dem Bibliothekar Old Jones nach. Wen interessiert das heutzutage? Ehrfürchtige Parteimänner aus China trippeln vorbei und knipsen Bilder des etwas ungemütlichen (Tisch recht weit von Sitzbank entfernt) aber hölzern-romatischen Arbeitsplatzes.

Made in Manchester. Das dreistöckige Afflecks-Gebäude im schicken Northern Quarter setzt die Trends der Stadt. Zwischen Punk und Bangladesh toben sich die lokalen Mode- und sonstigen Kreativen aus. Vom T-Shirt mit der krakeligen Aufschrift „Fashion will eat itself“ bis zum rosafarbenen Vintage-Klodeckel gibt es alles, was junge Leute so umsetzen. Dieses farbige Underground-Labyrinth operierte mehr als ein Vierteljahrhundert unabhängig von etablierten Labels und bietet eine Art Gegenentwurf zur Gallagher-Welt in der Innenstadt. Kürzlich endete der Mietvertrag. Die Kleinshops zittern um ihr Bestehen, obwohl es inzwischen fast undenkbar scheint, diese Ikone des städtischen Designs abzudrehen.

„Vielleicht ist es unser Erbe der Industriellen Revolution“, meint die Lokalreporterin Helen Tither, „das uns zu einer Stadt der Designer, Anpacker und Innovatoren macht“, und verweist auf den die Halle mit dem etwas trivialen Namen „Manchester Craft and Design Centre“, in der bis 1973 der Smithfield Victorian Fish Market untergebracht war. Nicht nur die Auszeichnung „Independent Retailer of the Year“ (2011) spricht für diese zweistöckige Produktions- und Verkaufsstätte für Keramik, Ledertaschen und Kleinmöbel. Die Lampenschirme von Lily Greenwood oder die Accessoires von Jane Blease bringen selbst Ahnungslose auf den Gedanken, das hier könnte „das nächste große Ding“ sein. Doch das Viertel bietet auch für Leute, die sich nicht zu den Designfreaks und Fashionistas zählen, eine ausgezeichnete Spazierkulisse – Teesalons, Cod&Chips-Läden, Kunstbuchhandlungen oder ein Lomographie-Shop.

Das Northern Quarter ist sozusagen die ärmliche Rückseite Arndales – des in den Siebzigerjahren unübersehbar mitten in die Industriestadt geklotzten größten innerstädtischen Einkaufszentrums Europas. Dieser Tempel des Mainstreams wird von wenigen geliebt. Am wenigsten wurde er das von der IRA, deren todesopferfreier Anschlag am 1996 als das „Wunder von Manchester“ in die Geschichte einging. Es kursiert sogar die Legende, diese Bombe sei gut für die Stadt gewesen, weil sie Platz schuf für Investition und Innovation – das Stadtviertel auf der Arndales zerbombter Seite wurde rundum erneuert („Millennium Quarter“). So entstand auch der Urbis-Glaspalast, in dem im Juli dieses Jahres das National Football Museum eröffnete.

Der Fußball lebt. Manchester United gehört zu den führenden Mannschaften Europas, das Stadion von Old Trafford ist eine Legende, und seit der andere Stadtverein Manchester City mit Geld aus Abu Dhabi letztes Jahr den Meistertitel holte, spricht man gelegentlich von der Welthauptstadt des Fußballs. Das Museum bekräftigt diesen Ruf. Da liegt jener Ball, mit dem Geoff Hurst im WM-Finale 1966 seinen Hattrick und das Wembley-Tor schoss: England wurde das einzige Mal Weltmeister. Ältestes Exponat ist das Trikot von Arnold Kirke-Smith vom ersten Länderspiel überhaupt, dem 0:0 zwischen England und Schottland (1872). Fußball ist ja Religion, und nach seiner einzigen internationalen Begegnung tat sich Kirke-Smith als Geistlicher hervor. Nicht weit davon hängt Diego Maradonas Dress, das er beim Hand-Gottes-Tor trug.

„Es gibt hier eine ungesunde Liebe zum Fußball, zu Feiern und zur Musik“, lobte Eric Cantona die Stärken Manchesters. Nicht umsonst hat sich in den Achtzigern der Begriff „Madchester“ für die musikalische Bewegung zwischen Independent und Elektronik herausgebildet – um den Nachtklub The Hacienda und eine lebendige Pub- und Lokalszene. Was einst als „Manchester Rave“ begann, wurde weltweit als „Rave“ bekannt und zieht viel junges Publikum an. „Man geht nicht so gerne nach Leeds oder so – Manchester ist nach London die klare Nummer zwei“, bekräftigt Ed Glinert. 40.000 Stundenten besuchen die University of Manchester. Das Stadtviertel südlich von Oxford Station ergibt das größte europäische Unigelände – seine Energie strahlt bis zu den populären Lokalen im Gay Village. Die Existenz eines solcken hätte der prominenteste Wissenschaftler der Stadt sich nie träumen lassen: Computerpionier Alan Turing setzte seinem Leben am 7. Juni 1954 nahe Manchester, wo er seine letzten sechs Jahre verbrachte, ein Ende. Als Homosexueller war Turing von einem Gericht zu einer Wahl zwischen Gefängnisstrafe und Hormontherapie zur Triebunterdrückung verurteilt worden. Der Bahnbrecher der theoretischen Informatik („Turingmaschine“) kam mit den staatlich erzwungenen Veränderungen seines Körpers nicht zurande. Erst Jahrzehnte später hagelte es Entschuldigungen und Statuen.

Tröpfelt es? Und wie! Für Manchester gibt es – wird übereinstimmend behauptet – keinen korrekten Wetterbericht. Man genießt hier jede Wetterlage, und meist kommt alles an einem Tag. Die gute Nachricht: Beginnt Regen zu fallen, tut es das nur eine Viertelstunde. Die Studenten flüchten sich in die Buffetkantinen Chinatowns. Und wenn sie satt sind, fahren sie per Metroshuttle ins Northern Quarter. Die allgegenwärtigen Busse heißen wohl so, weil Manchester es trotz vieler Pläne nie zu einer Untergrundbahn geschafft hat. Eine Sache, für die die meisten anderen Städte Jahrhunderte brauchen, wurde von den Mancunians problemlos umgesetzt: Die drei Buslinien sind gratis.